Alles unter Kontrolle
 

Zischend beendeten die Wassertropfen ihren Fall auf die heiße Herdplatte der alten Kaffeemaschine, um sich nach einem wilden Tanz in Luft aufzulösen.
„Es wird mich umbringen. Eines Tages wird mich dieser ganze Mist hier umbringen!“ Henry goss sich seine siebte Tasse Kaffee ein. Zitternd stellte er die Kaffeekanne zurück an ihren Platz. Seit zehn Jahren machte er diesen Wahnsinn nun mit. Zehn verdammte Jahre seines Lebens. Was für ein Leben? War es ein Leben, morgens vor allen anderen hierher zu kommen, um sich nach einem Tag voller Termine und Hetze in sein kleines, fensterloses Büro zurückzuziehen und endlich dem Schriftkram Herr zu werden? Vor drei Uhr nachts kam er selten ins Bett.

Aber was für eine Wahl hatte er denn? Wenn man erstmal in so einer Tretmühle steckt, dann läuft man eben. Immer weiter. Nur nicht trödeln. Schließlich gab es noch so viel zu tun. Zeit ist wertvoll. Wertvoller als alles Geld der Welt. Sie darf nicht vergeudet, nicht verschwendet werden.

Er nahm einen großen Schluck seines Lebenselixiers und ging die drei Schritte zu seinem Schreibtisch hinüber. Als er sich setzte, versagte ihm sein Stuhl den Dienst, indem die Höhenverstellung sich unter seinem Gewicht löste und es für einen Sekundenbruchteil abwärts ging.

Heißer Kaffee durchtränkte seinen linken Hemdärmel und auch auf seiner Hose begann sich ein großer dunkler! Fleck auszubreiten. „Kruzifix. Was ist denn heute nur los? Hat sich denn alles gegen mich verschworen?“

Schnell mäßigte er seinen Ton. Er durfte nicht so laut sein. Gott sei Dank, hatten die Akten nichts abbekommen. Puuh! Das hätte auch schief gehen können. Nein, sie bewegten sich nicht. Keinen Zentimeter. Das war gut. Sie schliefen weiter. Verstohlen blickte er zu der kleinen Kamera hinüber, die sich fast unsichtbar in der rechten Ecke der Zimmerdecke befand. Die Tür immer im Visier. Ihn aber auch, wenn sie schwenkte. Und das tat sie ab und zu. Einäugiger Spion, vermaledeiter. Doch notwendig. Zu seinem Schutz. Es hatte schon einige Übergriffe gegeben. Nein, beliebt war er wirklich nicht.

Ein unangenehmes, krampfartiges Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Er hätte den Stuhl noch mal kontrollieren müssen. So ein Versagen war unentschuldbar, denn es kostete Zeit. Er würde länger bleiben müssen. Verdammt. Noch weniger Schlaf. Lange würde er das nicht mehr durchhalten.

Ein Rascheln schreckte ihn auf. Die Akten. Sie erwachten. Oh nein. Er hatte zu lange gebraucht.

Schnell brachte er seinen Stuhl in die richtige Höhenposition und stellte den Hebel fest. Hoffentlich würde es halten. Er nahm erneut Platz und griff nach der obersten Akte, des Stapels zu seiner linken. Dort lagen mindestens 50 Fälle. In einpaar Stunden würden es doppelt so viele sein, wenn er sein Pensum heute nicht schaffte. 23:56 Uhr. Er hatte noch genau sechs 6 Stunden und vier Minuten, bevor der neue Arbeitstag eingeleitet wurde. Auf der anderen Seite ein ebenso großer Stapel. Das machte knapp vier Minuten für jeden Fall. Unmöglich!

Die Akte in seiner Hand zitterte, wie von Schüttelfrost geplagt. Auch ihr Äußeres sah ziemlich heruntergekommen aus. Flecken überzogen das Cover und die einzelnen Seiten lugten zerflettert in unregelmäßigen Abständen hervor.

Er verspannte sich. „Jaaa, ist ja gut. Ich kümmere mich ja schon um Dich.“ Er schlug sie auf.

Die komplizierten Schriftzeichen und Symbole flimmerten vor seinen Augen. Nur er und einige Mitarbeiter, denen er zu arbeitete konnten sie entziffern. Datenschutz.

Sie beschrieben den Arbeitsablauf des Fabrikarbeiters Kolin Vertrait im Forschungstrakt. Ein unzuverlässiger Geselle. Oft krank. Dagegen musste er vorgehen, sonst würde es letztlich an ihm hängen bleiben und das war Vertrait nicht wert. Schließlich sollten die Arbeiter in Zukunft noch effektiver arbeiten und die Rechtsabteilung war darum bemüht ihre Rechte wieder zu dezimieren. Längere Arbeitszeiten, kaum Lohn, geringe Sozialleistungen und wer aufmuckt fliegt. So stellten die vom Aufsichtsrat sich das vor.

Seit Evan Klodertschi, der engagierteste Vertreter der Arbeitergewerkschaft, seine Sozialpläne durchgesetzt hatte, waren die da unten nur noch am Meckern. Als ob es ihm hier oben besser ginge. Es hing an ihm die Uhr zurückzudrehen und diese Beschlüsse wieder außer Kraft zu setzen. Ob es ihm passte oder nicht.

Er seufzte tief und die Akte in seiner Hand begann leise zu knurren, als er den Negativvermerk eintrug, der Vertrait den Job kosten würde. In dem linken Stapel von dem er sie hatte, begann es unruhig zu werden. Sie warteten auf ihn. Wurden ungeduldig.

Aber dieser Fall hier war nicht einfach schnell abzuhandeln. Schließlich gab es Schutzbestimmungen bei Krankheit. Er musste sich Zeit nehmen, damit seine Kollegen endlich die Formalitäten abschließen konnten. Bloß keine Fehler mehr. Davon machten die anderen schon genug. Die Akten waren voll davon. Primitives Gesocks. Das sie es einfach nicht verstanden. Er schüttelte den Kopf über so wenig Einsicht und Kooperation.

„So, Vertrait. Du bist fertig. Nun kannst du krank sein, so lange du willst, aber nicht mehr auf Kosten der Firma.“ Er ließ die Mappe auf den Stapel „Erledigt“ gleiten und widmete sich Rossario. Emil Rossario. Er hatte ihn mal gesehen. Ziemlich kräftig. Nun, er arbeitete auch in der Produktion. Da brauchte er Kraft. ! Leider achtete er nicht auf die Arbeitsqualität. Zuviel Ausschuss. Ziemlich umfangreich die Akte, bestimmt 2,5 cm dick.

„Tja, mein Lieber, ab heute gehörst du auch zum Ausschuss. Personalausschuss.“ Er lachte kehlig über seinen eigenen Witz. Die Akte vibrierte und es hatte den Anschein, als ob sie darüber ihre Wut ausdrückte. Er ignorierte es und beförderte sie zu Vertrait.

Henry griff zu seiner Kaffeetasse und führte sie zum Mund. Leer. Mist! Er erhob sich, um sich einen neuen zu holen. Hinter ihm raschelten die Akten. Als er zurückkehrte und nach dem nächsten Fall griff, entging ihm ein kleines, dennoch wichtiges Detail.

Unter „Erledigt“ fehlten zwei Mappen. Seine Aufmerksamkeit gehörte nun Amalia Grodeck. Eine kleine Akte mit glatten, fast weich erscheinendem Papier. Selbst der Deckel war weiß und glatt. Das passte zu ihr. Die Mitarbeiterin war ein zierliches, eher schüchternes Geschöpf, aber so unkonzentriert. Wo war sie nur immer mit ihren Gedanken? Ihm konnte es ja egal sein, aber so ging das natürlich nicht weiter. Sie war viel zu langsam. Gewissenhaft, ja. Trotz ihrer Abschweifungen, aber dermaßen uneffektiv. Na ja, er würde sie noch einmal verwarnen. War ja wirklich eine ganz Süße. Doch es würde das letzte Mal sein, denn bei weiteren Zeitverstößen würde er seine Entscheidung nicht mehr rechtfertigen können.

0.23 Uhr. Schon so spät? Er war auch langsam. Viel zu langsam. Nun musste er doch einen Gang zulegen. Also die nächste. Kelvin Horath. Was suchte der denn im Verliererstapel? Kelvin war immer ein guter Kollege, ja, fast ein Freund, gewesen. Hatte sich nie etwas zu Schulde kommen lassen. Warum um Himmels Willen war er nun aussortiert worden?

Hastig hob er den Deckel an und überflog die ersten Zeilen. Verdacht auf Mitarbeiterverhetzung. Das konnte doch nicht wahr sein. Nicht Kelvin. Nein. Er las weiter. „... liegt aufgrund folgender Handlungen und Schriftstücke der genannten Person, der begründete Verdacht vor, dass Kelvin Horath die Führung der Arbeitervereinigung übernommen und die Sozialpolitik von Evan Klodertschi weitergeführt hat. Es wird sogar davon ausgegangen, dass ein Streik geplant ist, der alle Abteilungen betreffen wird. Ausgenommen sind bisher Personalverwaltung und das Management, wobei es selbst da undichte Stellen zu geben scheint ...“

Wow, das war starker Tobak. „Kelvin, Kelvin, von dir hätte ich das nicht gedacht. Ganz schön mutig, aber auch sehr dumm sich in die Karten schauen zu lassen. Deine Akte wandert mit Sicherheit in den nächsten Schredderer. Schade.“

In der Regel kannte er seine Pappenheimer. Die meisten lagen nicht zum ersten Mal auf seinem Schreibtisch. Einige waren unberechenbar. Man musste immer auf der Hut sein. Schon oft hatte er sich an Akten geklemmt oder sich an ihren scharfen Kanten geschnitten. Manche erschienen regelrecht aggressiv, andere wabbelig, wie die Personen, zu denen sie gehörten. Ohne Rückgrat. Manchmal schien es ihm, als stünden sie in ihrem Eigenleben in unmittelbarem Kontakt mit dem Mitarbeiter zu dem sie gehörten. Aber das war natürlich Quatsch!

Wieder raschelte es, aber diesmal war es drohender. Einige Akten begannen sich so heftig zu bewegen, dass andere dadurch zu Boden fielen. Er bückte sich, um sie auf zu heben. Als er sich wieder aufrichtete, flogen die Mappen wie wilde Vögel durch den Raum. Sie attackierten ihn regelrecht. Wie Wurfgeschosse.

Ihre scharfen Kanten schnitten sich tief in sein Fleisch. Er stöhnte auf, versuchte aufzustehen und die Flucht zu ergreifen. Keine Chance. Die dickeren prügelten ihn zurück in seinen Stuhl. „Das könnt ihr nicht tun. Es liegt doch nicht an mir. Ich war immer fair zu euch!“

Die Kamera zeigte zur Tür. Doch da war niemand. Eine Akte löste sich aus dem Pulk und schnitt Henry im Vorbeifliegen die Kehle durch. Mit ungläubig weit aufgerissenen Augen starrte er ins Leere, bevor er in sich zusammensackte und tot über die Schreibtischplatte fiel. Neben ihm lag die Akte Rossario.

Draußen auf dem großen Gelände kamen am nächsten Morgen nach und nach alle Arbeiter und Angestellten aus den Gebäuden, um sich wie zu einer Armee zu formieren. Sie hielten Transparente hoch, die auf ihre unzumutbaren Arbeitsverhältnisse hinwiesen. „Und?“ fragte Horath den Mitarbeiter Rossario. „Alles unter Kontrolle?“

„Ja, Chef, alles bestens.“ In den Büros war Ruhe eingekehrt, aber nicht alle waren leer. Im oberen Bereich, wo sich die Personalverwaltung und das Management befanden, saßen die Angestellten noch brav an ihren Schreibtischen. Vorn übergebeugt. Reglos. Von Aktenbergen umgeben. Kein Laut kam über ihre Lippen. Kein Schnaufen. Das einzige Geräusch, das zu vernehmen war, war das Rascheln von Papier.